1945 Grenzgebiet: Schweizer und Deutsche halten zusammen

 

 

Text von Gero Greb „dä Iiklämmti“

 

 

8. Mai 2020

 

 

Es gibt schon seltsame Zufälle: Heute am 5.5.2020 stosse ich im Internet - wirklich ganz zufällig - auf Unterlagen über die Vertreibung der Bevölkerung aus dem Jestetter Zipfel (ZAG= Zollausschlussgebiet bis 1937) im Mai 1945 also  dreieinhalb Monate  nach meiner Geburt (24.01.1945). Ich wohne seit 1977 an der engsten Stelle (800 Meter breit) dieses Zipfels und bin nun seit 4 Wochen von den Schweizern „eingemauert“ worden! Berliner Mauer war einmal!

 

Dieser Text von Mai 1945 passt doch wunderbar zu unserem Wunsch an unsere Schweizer Brüder und Schwestern die Grenzen für uns Grenzbewohner und Halbschweizer zu öffnen!

 

Wie sich doch immer wieder alles wiederholt! Bitte beachten: Die untermalten Textstellen, die z.B. die Verbundenheit der deutschen Bevölkerung in diesem Zipfel mit den Schweizern betonen, dies tun nicht die Jestetter, Baltersweiler usw. sondern die  S C H W E I Z E R!

 

Dieser Text (Fehler habe ich nicht korrigiert) ist original aus der Zeitung „Die Tat“ vom 8. Juni 1945 - ich hab die „TAZ“ abonniert - auch wieder so ein Zufall!

 

Die Tat war eine sozial-liberale Schweizer Zeitung, die von Gottlieb Duttweiler gegründet und zwischen 1935 bis 1978 von der Migros herausgegeben wurde.

 

Es zeigt sich auch eine Solidarität mit den Vertriebenen:

 

Eine Gewissenspflicht !

 

W. Mit Schrecken musste die Nachricht erfüllen, dass der Jestetter Zipfel ausgesiedelt werde. Innerhalb 24 Stunden musste die Bevölkerung von Jestetten, Lottstetten, Balm und Balterswil, rund 2500 Badenser, ihre Heimat verlassen. In den letzten Tagen nun sind von einem ähnlichen Ausweisungsbefehl auch Gemeinden im Bodenseegebiet betroffen worden. Wie man erfuhr, hat das alliierte Oberkommando diese Massnähme gegen den Willen des französischen Grenzkommandos verfügt, um einen menschenleeren Grenzgürtel zu schaffen. Die französischen Truppen hätten, so heisst es, alles getan, um den Evakuierten den Wegzug erträglich zu gestatten. Ein Tropfen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft ! — so wenig es ist, man anerkennt es dankbar. Ist aber dieses neugeschaffene Elend nächster Nachbarschaft nicht sinnlos, da es gar keine Strafmassnahme, sondern eine reine Verwaltungsmassnahme ist, um Truppen einzusparen ? Ein bloss organisatorischer und offensichtlich gedankenloser Befehl soll nun, gerade auf die Einstellung der Feindseligkeiten hin, wieder Tausende entwurzeln und verjagen ? Der Basler Kirchenrat schrieb in seinem Mandat auf Kriegsende:« Als es noch etwas kostete, da haben wir nicht protestiert. » Die Stunde ist gekommen, wo wir weder schweigen dürfen noch sollen, sogar wenn es etwas kostet. Köstlicher als Liebesgaben und Schweizer Spende ist es, eine Gewissenspflicht zu erfüllen, die wir aus christlicher Verantwortung bejähen müssen, gerade um soviel Versäumtes gut zu machen. Die deutschen Nachbardörfer haben früher eng verbunden mit der Schweiz gelebt, und durch den kleinen Grenzverkehr gehörten sie, wenn auch nur am Rande, zu unserer schweizerischen Familie, so wie etwa die Liechtensteiner. Dürfen wir es wortlos geschehen lassen, dass die ganze Bevölkerung von Haus und Hof vertrieben wird, ohne — man muss es nochmals sagen — sich irgend etwas zuschulden haben kommen lassen ? Wenn irgendwer, so sollten die Kirchenräte von Zürich und Schaffhausen Erhebungen anstellen, sich mit den Besatzungsbehörden in Verbindung setzen. Hier ist der Ort, Fürsprache einzulegen, Fürbitte mit allen Kräften. Werden wir schweigen und auch die Friedenszeit wieder mit einem entsetzlichen Schweigen einleiten, das uns zu Mitschuldigen macht? Nationalrat Oeri hat den Kirchenrat von Basel zu einem Protest aufgerufen. Näher und unmittelbarer betroffen sind Zürich und Schaffhausen. Mögen sich deren Kirchenräte, das Kirchvolk beider Kantone das Herz fassen zu einer wirklich christlichen Tat. Denn dies wäre doch das Entsetzlichste, wenn der Nazismus, in fürchterlicher Infektion um Sich greifend an den Siegern der Stunde zum dämonischen Sieger würde .

(Die Tat, 8. Juni 1945)

 

Diese Episode kommt auch vor in Ruth Blums Roman „Die grauen Steine“. Dieser ist ein interessantes Zeitdokument über das Leben in dem Schaffhausener Grenzgebiet und in Zürich während der dreissiger und vierziger Jahre.

 

https://www.chronos-verlag.ch/node/26491

 

 

Noch eine Anmerkung von mir - Gero Greb – es wäre doch speziell für die ehemaligen Grenzgänger, die nun in Rente sind und nicht in die Schweiz dürfen, kein Problem ihre alten Grenzgängerbewilligungen als „Eintrittskarte“ für die Schweiz hervorzuholen! Ich hoffe, bald meine Lebensgefährtin, meine Freunde in St. Gallen, Zürich, Buchs Schaffhausen usw. besuchen zu dürfen.

 

Weitere Informationen zum Thema:

 

https://www.europa-konzept.eu/aktuelle-texte/corona-grenzöffnung-für-freunde/

 

 

Titelbild

 

Grenzstein im Wangental, fotografiert von Gero Greb

 

 

 

 

 

 

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© Regula Heinzelmann